Ueli Mäder: «Die Spaltung der Gesellschaft war nicht so stark»

Der pensionierte Soziologieprofessor Ueli Mäder ist beeindruckt, wie die Gesellschaft auf Corona reagiert hat. Und er sagt, was wir aus der Pandemie für die Bewältigung der ökologischen Krise lernen können.                                                                                                                                                                      

Ueli Mäder
Ueli Mäder war bis 2016 Professor der Uni Basel und machte sich einen Namen als Armutsforscher (Foto: Andreas Zimmermann)

Wie geht es Ihnen? Und wie haben Sie die zwei Jahre Corona-Pandemie persönlich erlebt?

Ueli Mäder: Mir geht es gut. Ich bin privilegiert, da ich das tun kann, was ich gerne mache. Am Anfang nahm ich die Pandemie eher auf die leichte Schulter. Dann merkte ich, dass man sie ernst nehmen muss. Ich war beeindruckt, wie die Gesellschaft reagierte. Es gab viel Bereitschaft, zugunsten von Menschen zurückzustehen, die stärker gefährdet sind. Zudem habe ich den Eindruck, dass die Behörden die Krise grundsätzlich gut gezügelt beziehungsweise begleitet haben.

Wir befinden uns in Ihrer Wohnung in Rheinfelden. Wie hat sich das Leben in der Stadt verändert?

Meine Frau und ich gehen oft spazieren. Zeitweise war ja die Grenze nach Deutschland geschlossen. Das war speziell, da wir unseren Weg nicht wie gewohnt auf der deutschen Rheinseite fortsetzen konnten. Wir sahen Leute, welche durch den Zaun an der Grenze miteinander redeten. Es machte einem bewusst, was für ein Segen offene Grenzen sind. Insgesamt hat Corona wohl die Freundlichkeit in der Stadt gefördert. Man grüsste sich noch mehr auf der Strasse. Gerade nebenan wohnt eine Familie mit kleinen Kindern. Diese backten Gutzi und stellten sie uns vor die Türe. Es gab viele solche kleine Zeichen, die mich freuten.

Wie hat die Schweiz im Vergleich mit Deutschland und Frankreich die Pandemie überstanden?

Die Schweiz hat wohl weniger streng reagiert. Es war ein Abwägen, bei dem auch die Wirtschaft noch funktionieren konnte. Und doch übernahm die Politik mehr Verantwortung als sonst, die Exekutive erhielt mehr Kompetenzen. Ich habe eine kritische Distanz zu Kontrollmechanismen, aber ich fand dies richtig.

Grosse Firmen wie Amazon, Facebook und Microsoft in den USA wurden durch die Pandemie noch reicher. Wer hat in der Schweiz besonders profitiert?

Ich gehe davon aus, dass alle irgendwo Schaden genommen haben, weil die Pandemie eine Beeinträchtigung für die ganze Gesellschaft darstellte. Natürlich hat sich Corona unterschiedlich ausgewirkt. Es hat Differenzen verstärkt, die auch ohne Pandemie schon vorhanden waren. Wichtig ist nun, dass diejenigen, welche durch die Pandemie Gewinne gemacht haben wie zum Beispiel die Pharmaindustrie, diese auch möglichst sozialverträglich einsetzen. So etwa für gemeinnützige Forschung, günstigere Medikamente und höhere Löhne bei den unteren Einkommensgruppen.

Hat die Armut in der Schweiz durch die Pandemie zugenommen?

Ich habe viel Kontakt mit Leuten, die nur knapp über die Runden kommen. Es gab einige, welche fast frohlockten, weil sie sich sagten: Diese Krise trifft alle! Andere waren zerknirscht, weil sie befürchteten, dass sie jetzt doppelt geprellt sind. In der Tendenz hat die Pandemie die Probleme der armutsbetroffenen Bevölkerung wohl verstärkt. Das ist auch die Vermutung der Konferenz für öffentliche Sozialhilfe.

«Im Umgang mit Konflikten müssen wir alle zulegen, es gibt diesbezüglich einen grossen Analphabetismus in der Gesellschaft.»

Das Pflegepersonal kam an seine Grenzen. Hatte der Staat in diesem Bereich zuvor zu viel gespart?

Der Staat spart in diesem Bereich schon lange zu viel. Man hat vor der Krise viele Spital- und Pflegebetten abgebaut, obwohl die ältere Bevölkerung bis ins Jahr 2035 ja zunehmen wird. Investitionen in eine gute Pflege sind auch unabhängig von Corona wichtig. Der Gesellschaft geht es gut, wenn es allen gut geht.

Corona hat zu einer starken Spaltung der Gesellschaft geführt, Massnahmengegner kritisierten die Behörden hart und sprachen sogar von einer Diktatur. Wie können wir diese Gräben wieder zuschütten?

Ich empfand die Spaltung der Gesellschaft als nicht so stark. Zwar erhielt ich wegen meiner Vorschläge, den Reichtum generell besser zu verteilen, noch mehr böse Mails und Drohungen, per Telefon sogar mitten in der Nacht. Das zeigt, dass Menschen zum Teil sehr verzweifelt waren. Aber es gab auch schon früher harte Auseinandersetzungen – so hörte ich während des Kalten Kriegs oft den Satz: Geh doch nach Moskau! Ein Bruder von mir, der den Dienst verweigerte, wurde im Oberbaselbiet sogar bewusstlos geschlagen. Ich erlebte jene Auseinandersetzungen eher drastischer als diejenigen um Corona. Zudem finde ich, dass auch die Gegner der Corona-Massnahmen auf die Strasse gehen und sich artikulieren dürfen: Lebendige Diskussionen bringen die Gesellschaft weiter, wenn sie fair bleiben.

Wie gingen Sie um mit Leuten, die in der Corona-Frage eine andere Meinung hatten?

Ich hielt es wie immer in Diskussionen. Mich interessiert, was Menschen dazu bringt, so zu denken. Da bin ich ganz Soziologe! Wenn ich jemandem lange und gut zuhöre, kann das dem Gegenüber helfen, etwas auch mal aus einer anderen Perspektive zu betrachten und eine fixe Position aufzuweichen. Im Umgang mit Konflikten müssen wir alle zulegen, es gibt da einen grossen Analphabetismus in der Gesellschaft. Wobei es gerade bei diskriminierenden Aussagen auch wichtig ist, klare Grenzen zu setzen.

Die Beteiligung an Volksabstimmungen ist während der Pandemie gestiegen, gibt es eine Repolitisierung in der Schweiz?

Ich denke, dass sich die politische Debatte ein Stück weit intensiviert hat. Ich diskutierte ab und zu mit dem kürzlich verstorbenen früheren Novartis-Präsidenten Alex Krauer. Dieser sagte mir: Er wolle zwar eine starke Wirtschaft, aber auch ein starkes demokratisches Gegenüber, mit dem sich verbindliche Regeln ausarbeiten liessen. Die Konzerne wurden in den letzten dreissig Jahren noch mächtiger, demokratische Korrektive dagegen schwächer. Eine aufgeklärte Repolitisierung kann helfen, diese Korrektive zu stärken.

Was gibt es sonst noch Positives, das wir aus der Krise mitnehmen können?

Für mich ist eine zentrale Frage: Was ist wichtig und sinnvoll im Leben? Ich denke, während der Pandemie haben sich viele diese Frage gestellt. Und sie sahen, dass die Welt nicht gleich untergeht, wenn sie auf gewisse Dinge mal verzichten müssen. Diese Haltung sollten wir bewahren.

Können wir die Erfahrungen, die wir in der Krise machten, auch für die Bewältigung anderer Krisen nutzen, zum Beispiel für den Kampf gegen den Klimawandel?

Ich hoffe es, weil die Zusammenhänge deutlicher geworden sind. Man sollte die Umwelt aber mit dem Politischen und dem Sozialen verbinden. Und dazu sind staatliche Vorgaben nötig, wie bei Corona. Sonst lassen sich die Klimaziele nicht erreichen. Die viel gepriesene Selbstverantwortung von Mensch und Wirtschaft reicht nicht.

«Ich finde, dass unsere Gesellschaft einerseits viel zu stark ökonomisiert und auf den kurzfristigen Nutzen ausgerichtet ist. Andererseits verhalten sich viele Menschen trotzdem sehr sozial.»

Kommen wir auf den Zustand der Gesellschaft in der Schweiz zu sprechen. Sie sagten, dass es auch ohne Pandemie schon grosse Spaltungen gibt, zum Beispiel zwischen Arm und Reich. Wie steht es um die soziale Mobilität?

Einerseits nimmt die soziale Mobilität zu. Im Bildungsbereich gibt es viele Öffnungen, das ist erfreulich. Auch der Frauenanteil in Branchen, die früher Männern vorbehalten waren, nahm zu. Andererseits hat ein Kind mit Akademiker-Eltern immer noch eine wesentlich grössere Chance, eine Maturität zu machen. Es gibt heute sogar eher weniger Politikerinnen und Politiker, die nicht mindestens aus der Mittelschicht stammen. Im oberen Baselbiet, wo ich aufwuchs, gab es früher einen engagierten Hilfsarbeiter, Paul Wagner, der später SP-Nationalrat wurde. So etwas ist heute fast nicht mehr denkbar. Es braucht mehr Geld, um in die hohe Politik zu gelangen. Das finde ich nicht gut, da in der Politik alle sozialen Schichten vertreten sein müssten.

Sie kommen aus einfachen Verhältnissen und stiegen zum angesehenen Soziologieprofessor auf. Zeigt das nicht, dass das System funktioniert?

Bei mir haben auch Glück und Zufall mitgeholfen. Es gibt auch andere Beispiele, diese machen aber noch nicht Schule. Heute steigen in der Wirtschaft sogar eher Leute auf, die nicht über besondere Sozialkompetenzen verfügen und zum Beispiel bereit sind, andere zu entlassen. Insgesamt gibt es zu wenig soziale Durchmischung.

Wie steht es um die Aufstiegschancen von Menschen mit Migrationshintergrund?

Ein ehemaliger Doktorand von mir, Ganga Jey Aratnam, hat in seiner Studie «Race to the Top» von 2020 gezeigt, dass Menschen mit Migrationshintergrund schlechtere berufliche Einstiegschancen haben, selbst wenn sie gute Abschlüsse mitbringen. In Basel kommen solche Menschen eher bei Multis und der Pharma unter. Bei der öffentlichen Verwaltung und bei sozialen Institutionen haben sie es schwerer. Das hat mich überrascht.

Als Soziologieprofessor nahmen Sie sich Zeit für Gespräche mit Personen, die in schwierigen Lebenssituationen steckten und manchmal abends bei Ihnen im Büro auftauchten. Machen Sie das immer noch?

Ja, das tue ich. Und manchmal frage ich mich, warum ich noch so zuversichtlich bin. Das hängt wohl mit dem Austausch mit Menschen aus dem ganzen Spektrum der Gesellschaft zusammen, den ich immer noch pflege. Einerseits finde ich, dass unsere Gesellschaft viel zu stark ökonomisiert und auf den kurzfristigen Nutzen ausgerichtet ist. Andererseits stelle ich fest, dass sich viele Menschen trotzdem sehr sozial verhalten. Auch gerade junge Leute, ohne Belohnung dafür zu bekommen. Oder ich spiele noch mit Kollegen Fussball: Darunter sind auch mehrere Büezer, die sich viele soziale Gedanken machen und das nicht an die grosse Glocke hängen.

Ist auch das Engagement vieler Menschen in der Schweiz für Flüchtlinge aus der Ukraine Ausdruck davon?

Das ist so. Zahlreiche Menschen in der Schweiz leiden mit und möchten helfen. Diese spontane Hilfsbereitschaft freut mich. Es wird aber vielleicht auch Spannungen geben, wenn es darum geht, wer was übernehmen und bezahlen muss.

«Die viel gepriesene Selbstverantwortung von Mensch und Wirtschaft funktioniert nicht.»

Was haben Sie sich vorgenommen für die Zeit nach der Pandemie? Arbeiten Sie noch an Projekten?

Ich geniesse es, als Pensionierter einfach für mich Zeit zu haben. In den letzten zwanzig Jahren meines Berufslebens hatte ich sehr viel gearbeitet, vom Morgen früh bis am Abend spät. Ich liebte das. Mit der Pensionierung verliess ich sämtliche Gremien. Seither bin ich nur noch für die Ombudsstelle der Uni Basel tätig. Ich bin der Universität sehr dankbar, weil sie über all die Jahre zu mir gehalten hat. Ab und zu halte ich noch einen Vortrag oder schreibe einen Artikel. Das reicht. Ich nehme mir überdies Zeit zum Nachdenken und um Bücher gründlicher zu lesen, ohne gleich an die Verwertung zu denken.

Welches ist aus Ihrer Sicht die grössere Herausforderung für die Zukunft: die soziale oder die ökologische Frage?

Man muss diese Fragen miteinander verbinden. Erich Fromm (1900–1980), ein Psychoanalytiker und Philosoph, versuchte das schon. Er hat die ökologischen Anstrengungen des 1968 gegründeten Club of Rome sehr geschätzt und dafür plädiert, sie mit der sozialen Frage zu verknüpfen. Es geht grundsätzlich um Menschlichkeit, Naturverbundenheit und um mehr ganzheitliches Denken. Wir sollten uns fragen: Was können wir tun, damit sich Einzelne nicht auf Kosten anderer verwirklichen? Und was, damit alle ein möglichst gutes Leben führen können?

 

Zur Person

Ueli Mäder (71) war von 2005 bis 2016 Professor für Soziologie an der Universität Basel. Er spezialisierte sich auf die Erforschung der Armut und des Reichtums. Zuvor war er Dozent sowie Leiter einer Entwicklungsorganisation. Er machte eine Grundausbildung in Psychotherapie. Mäder gründete 1971 die linke Partei POCH mit und sass vor seinem Amtsantritt als Soziologieprofessor für diese Partei neun Jahre im Grossen Rat Basel-Stadt. Im März 2022 erhielt er den internationalen Erich Fromm-Preis. Ueli Mäder ist verheiratet und Vater von drei erwachsenen Kindern.