Herr Stocker, würden Sie sich für den Klimaschutz an die Strasse festkleben?
Thomas Stocker: Nein…
… Die Lausanner Uni-Professorin Julia Steinberger und andere Aktivisten von Renovate Switzerland haben dies aus Enttäuschung über das schleppende Vorankommen beim Klimaschutz getan. Verstehen Sie diese Enttäuschung?
Absolut. Ich teile diese Enttäuschung seit rund 20 Jahren. Es gab ja viele politische Vorstösse in der Schweiz im Bereich Energie und Klima. Und seit Jahrzehnten sind es immer die gleichen Akteure wie Economiesuisse und Gewerbeverband, die solche Vorlagen durch zum Teil aufwändig gemachte Abstimmungskampagnen verhindern oder abschwächen. Deshalb verfügen wir noch immer über kein griffiges Klimaschutzgesetz. An die Strasse festkleben würde ich mich nicht, ich kann aber absolut nachvollziehen, was Julia Steinberger und ihre Kolleginnen und Kollegen machten. Die rote Linie ist jedoch für mich überschritten, wenn man Kulturgüter beschädigt oder sie durch Aktionen in Mitleidenschaft zieht.
Ist die Schweiz auf Kurs, die Ziele des Pariser Klimavertrags von 2015 zu erreichen? Dieser sieht vor, die Temperaturerhöhung im Vergleich zum vorindustriellen Niveau auf deutlich unter 2 Grad zu begrenzen?
Leider ist sie in keiner Weise auf Kurs. Man muss ja den gesamten Konsum betrachten, nicht nur die in der Schweiz ausgestossenen Treibhausgase, die zum zum Beispiel durch das Heizen und das Autofahren versursacht werden. Man spricht von grauen Emissionen im Ausland hergestellter Konsumgüter, und sie müssen mitberücksichtig werden.
Wie kann das geändert werden?
Wir sollten mehr auf die Qualität von Produkten achten. Zum Beispiel sollten wir mehr bezahlen, wenn ein Produkt dafür drei- bis viermal länger hält. Oder der Trend zu immer schwereren Fahrzeugen auf Schweizer Strassen muss gebrochen werden, diese haben in den letzten 20 Jahren unheimlich stark zugenommen.
Braucht es mehr staatliche Vorschriften?
Ja, es braucht Rahmenbedingungen. Wenn man als Gesellschaft in eine Richtung gehen will, ist es am einfachsten, wenn alle dies tun. Ein Beispiel: Wenn Sie auf der Autobahn in eine gefährliche Kurve fahren, sind Sie froh, dass es eine Geschwindigkeitsbegrenzung gibt. Wenn man sagen würde, es ist Eigenverantwortung, sieht der eine oder die andere die gefährliche Situation vielleicht nicht und bringt sich oder andere in Gefahr. Mit einem Tempolimit ist dies für alle geregelt. Dies ist eine Norm, welche die Gesellschaft als Ganzes akzeptiert hat. So wie wir auch akzeptieren, dass wir alle Steuern bezahlen. Eine solche gesellschaftliche Vereinbarung braucht es auch für den Klimaschutz.
Das Parlament hat letzten Herbst einen Gegenvorschlag zur Gletscherinitiative verabschiedet, über den wir noch dieses Jahr abstimmen werden. Darin wird festgehalten, dass die Schweiz bis 2050 klimaneutral werden soll. Zudem stellt der Bund jährlich 200 Millionen Franken für Gebäudesanierungen und den Ersatz alter Heizungen zur Verfügung. Ein Schritt in die richtige Richtung?
Auf jeden Fall, ja. Das CO2-Gesetz, das im Juni 2021 in der Volksabstimmung nach einer massiven Nein-Kampagne scheiterte, wäre zwar deutlich besser gewesen. Die neue Vorlage ist aber ein erster kleiner Schritt in die richtige Richtung.
Reicht sie aus, um die Schweiz wieder auf Klimakurs zu bringen?
Nein. Bei den Massnahmen fokussiert die Vorlage ja nur auf die Emissionen durch Heizungen, andere Bereiche wurden ausgeklammert. Forschung und Entwicklung von neuen Technologien wären ebenfalls von zentraler Bedeutung für den Wirtschaftsstandort Schweiz gewesen. Immerhin fördert das Gesetz mit den vorgesehenen Massnahmen direkt Hauseigentümerinnen und Hauseigentümer sowie Firmen, die klimaschonende Technologien einsetzen. Das beschleunigt den Umstieg auf erneuerbare Energien und ist ein erster, wichtiger Schritt.
Gewisse Städte und Kantone machen vorwärts: Die Stadt Zürich will klimaneutral werden bis 2040. Der Kanton Basel-Stadt will dieses Ziel gar bis 2037 erreichen, wie eine Abstimmung über eine «Klimagerechtigkeits-Initiative» kürzlich klarmachte. Könnte dies ein Vorbild sein für andere Kantone?
Absolut. Der Klimaschutz muss regional erfolgen. Es gibt zwei Ebenen: Es braucht internationale Vorgaben, ein globaler Preis für die Emissionen fossiler Energie wäre ideal, ist aber kaum zu realisieren. Gleichzeitig braucht es lokale Massnahmen, weil wir lokal konsumieren und Emissionen verursachen. Neben Zürich und Basel gibt es noch ein anderes gutes Beispiel: Der Kanton Glarus hat 2021 beschlossen, die Neuinstallation fossiler Heizungen zu verbieten. Dank einem Entscheid durch die uralte Tradition der Glarner Landsgemeinde ist nun der von aussen gesehen konservative Kanton Glarus zum Pionierkanton im Schweizer Klimaschutz geworden.
Wird der Ukrainekrieg den Ausstieg der Schweiz aus fossiler Energie beschleunigen?
Einerseits brauchte es Notmassnahmen: Dazu zählt der Bau des Gaskraftwerkes in Birr, das ja nur bei Strommangel eingeschaltet wird. Das ist sicher vernünftig. Andererseits wurde durch den tragischen Krieg in der Ukraine vielen Menschen klar, in welche Abhängigkeit wir uns begeben hatten. Es geht nicht nur um die Abhängigkeit von Russland, sondern auch von anderen Staaten, die Öl oder etwa auch Uran liefern und nicht zuverlässig sind. Nötig ist eine dezentralere Energieversorgung mit erneuerbaren Energien, und diese Entwicklung hat sich durch den Krieg wohl beschleunigt. Ich wünsche mir, dass der Krieg möglichst schnell beendet wird, die Beschleunigung dieser Transformation der Energie aber anhält.
Die UNO-Klimakonferenz im November in Ägypten hat kaum Fortschritte gebracht. Es zeigte sich, wie uneinig sich Industrie- und Entwicklungsländer sind. Ein Misserfolg?
Man darf nicht von jeder Klimakonferenz erwarten, dass es zu einem Durchbruch kommt. Klimakonferenzen sind notwendig als internationale Dialogplattform. Die Einigung auf das Pariser Klimaabkommen von 2015 war sicher ein historischer Erfolg – sie war Ergebnis von 21 Klimakonferenzen seit 1995. Die Klimakonferenz 2022 in Sharm el-Sheikh brachte nun einen Stillstand. Ein Problem bestand darin, dass vor Ort die Vertreter von Big Oil sehr einflussreich waren.
Welche Bedeutung haben solche Klimakonferenzen eigentlich noch? Wäre es sinnvoller, wenn Staaten bilaterale Abkommen abschliessen, wie zum Beispiel die USA und China?
Ich denke, man sollte das eine tun und das andere nicht lassen.
Klimaforscher sagen, es komme auf jedes Zehntel-Grad Erwärmung an beim Klimaschutz. Weshalb ist das wichtig?
Wenn man nur die globale Durchschnittstemperatur betrachtet, ist das schwierig nachzuvollziehen. Was direkte Schäden anrichtet sind jedoch Extremereignisse wie Hitzewellen, Dürren oder Starkniederschläge: Wenn die globale Temperatur statt um 1,5 Grad um 2 Grad steigt, treten extreme Hitzewellen rund dreimal so häufig auf, wie Modellrechnungen zeigen. Solche Ereignisse nehmen also viel schneller zu als die globalen mittleren Temperaturwerte. Deshalb macht tatsächlich jedes Zehntel-Grad einen Unterschied.
Zurück zur Schweiz: Was sagen sie zum etwa von der SVP vorgebrachten Argument, die kleine Schweiz könne nichts beitragen zum Klimaschutz?
Dieses Argument hören wir seit 30 Jahren! Meine Antwort lautet so: Der Steuerbetrag, den ich bezahle, gibt mein Wohnkanton – der Kanton Bern – in rund sieben Minuten des Jahres aus. Nun könnte ich sagen: Der Kanton kann doch auf diesen Steuerbetrag verzichten, wenn er für sieben Minuten sein Portemonnaie nicht öffnet! Als Gesellschaft haben wir aber gemeinsame Projekte. Deshalb müssen alle Steuern bezahlen. Der Klimaschutz ist auf globaler Basis ein solches gemeinsames Projekt, bei dem die Schweiz ihren Beitrag leisten muss. Dieser muss pro Kopf sogar höher sein als derjenige eines Chinesen oder einer Chinesin, weil wir schon viel länger Treibhausgase emittieren und deshalb eine historische Verantwortung tragen. Seit der industriellen Revolution haben die alten Industriestaaten nämlich mehr als die Hälfte aller weltweiten Treibhausgase ausgestossen.
Im Juni wird die Stimmbevölkerung über das neue Klimaschutz-Gesetz als indirekten Gegenvorschlag zur Gletscherinitiative entscheiden. Was müssen die Befürworter diesmal besser machen als bei der Kampagne für das CO2-Gesetz, das im Juni 2021 knapp verworfen wurde?
Es gilt aufzeigen, dass Klimaschutz eine riesige wirtschaftliche Chance ist, die wir packen sollten. Wenn ich bei mir zu Hause eine Wärmepumpe einbaue oder ein Fenster ersetze, profitiert das KMU um die Ecke. Und ich schaffe damit Arbeitsplätze vor Ort. Wenn ich mit fossiler Energie heize, bezahle ich den Scheich von Abu Dhabi oder Putin, die mir den Brennstoff verkauften. Darüber hinaus sollte man im Abstimmungskampf falschen Tatsachen klar entgegentreten, wie sie die SVP wahrscheinlich auch diesmal – wie schon im Abstimmungskampf gegen das CO2-Gesetz – vorbringen wird.
Auf Anfang Jahr hat der neue SVP-Bundesrat Albert Rösti das Umweltdepartement übernommen. Was bedeutet das für den Klimaschutz?
Schwer zu sagen. Die Erdölimporteure und Auto Schweiz haben nun persönlichen Zugang zum Umwelt-, Klima- und Energieminister. Das verheisst nichts Gutes. Allerdings muss sich Albert Rösti als Bundesrat mit Fakten auseinandersetzen und kann nicht mehr mit einfachen Parolen oder Falschaussagen seiner Partei die Bevölkerung beeinflussen. Er will sicher auch etwas vorweisen können, und im Klimaschutz heisst das: Reduktion der Treibhausgasemissionen, einschliesslich der grauen Emissionen. Daran wird seine Arbeit gemessen.
Ganz allgemein: Drücken sich Klimaforschende zum Teil etwas kompliziert aus und sind sie ein mitschuldig, dass es mit dem Klimaschutz so schleppend vorangeht?
A: Nein, das muss ich zurückweisen. Schon vor 50 Jahren hat die Klimaforschung darauf hingewiesen, dass es ein Problem gibt mit der globalen Erwärmung. Die Ursache davon seien die fossilen Brennstoffe. Und es gebe noch ein paar Unsicherheiten, sagten die Forschenden damals. Das war völlig korrekt! Wer nicht hinhören wollte, sagte dann schnell, ihr redet zu kompliziert. Man muss halt genau zuhören! Die Kommunikation wurde den letzten zehn Jahren aber in der Tat klarer und deutlicher, weil wir zum Beispiel Hitzewellen und Trockenperioden viel besser messen können.
Haben Sie fürs neue Jahr einen persönlichen Vorsatz gefasst?
Ich will verstärkt darauf hinweisen, dass Klimaschutz für Forschung, Entwicklung und für die KMU in der Schweiz riesige Chancen bietet. Auf die Strasse kleben werde ich mich nicht, im Abstimmungskampf zum Gegenvorschlag der Gletscherinitiative werde ich aber allfällige Falschaussagen und Vernebelungen klar mit Fakten zurückweisen.
Dieses Interview ist in gekürzter Form im Strassenmagazin «Surprise» No. 541 erschienen. Es wurde leicht aktualisiert.
Kleine Klimaagenda für 2023
18. Juni: Volksabstimmung über das Klimaschutz-Gesetz (indirekter Gegenvorschlag des Parlaments zur Gletscherinitiative). Dieses verlangt, dass der Bund pro Jahr 200 Millionen Franken für Gebäudesanierungen und Heizungsersatz bereitstellt. Zudem soll die Schweiz bis 2050 klimaneutral werden.
30. September: Schweizer Umweltorganisationen rufen zu einer nationalen Klima-Demo auf dem Bundesplatz in Bern auf.
22. Oktober: National- und Ständeratswahlen. Klimaschutz und Energieversorgung dürften Topthemen des Wahlkampfs werden.
30. November - 12. Dezember: Die nächste UNO-Klimakonferenz findet in Dubai statt. Es geht u.a. um die Ausgestaltung des neu geschaffenen Fonds für Klimaschäden und um weitere Reduktionen der Treibhausgas-Emissionen. Auch die Schweiz ist bei den Verhandlungen dabei.