Die Gebärden-Übersetzerin

Corinne Stutz (49) verwandelt als Gebärdensprachdolmetscherin Worte in Handzeichen – und umgekehrt. Gewisse Einsätze gehen ihr sehr nahe.                                                                                                            

Gebärdensprach-Dolmetscherin Corinne Stutz
Corinne Stutz: «Es geht auch darum, dass die Hörenden die Gehörlosen verstehen.» (Foto: Privat)

Ich stehe etwa um 6.30 Uhr auf und frühstücke mit meinen beiden Kindern. Damit ich am Morgen richtig in Schwung komme, brauche ich zwei grosse Tassen Cappuccino. Angestellt bin ich beim Dolmetschdienst Procom, pro Tag habe ich manchmal drei verschiedene Einsätze.

Es gibt rund 20’000 gehörlose Menschen in der Schweiz. Als Gebärdensprachdolmetscher kommen wir überall dort im Leben zum Einsatz, wo es Kommunikation braucht – quasi von der Geburt bis zum Tod. Am Vormittag steht zum Beispiel eine Teamsitzung in einer Firma an, an der eine gehörlose Person teilnimmt. Es geht nicht bloss darum, dass diese an dem Meeting die zehn Hörenden versteht, sondern auch darum, dass die hörenden Personen die gehörlose verstehen. Wir versuchen jeweils, die Perspektive umzudrehen.

Gebärden werden mit Gestik und Mimik unterstützt

Ich übersetze von der Lautsprache in die deutschschweizerische Gebärdensprache und zurück. Auf jeden Einsatz bereite ich mich vor und mache mich mit dem Fachwortschatz der jeweiligen Branche vertraut. Für jedes Wort gibt es eine andere Gebärde, und diese ist in jeder Sprache anders. In der Schweiz ist die Gebärde für «Baum» zum Beispiel ein senkrecht angewinkelter Arm, die Hand wird leicht bewegt. Gleichzeitig unterstützen wir die Gebärde mit Gestik und Mimik und sprechen Nomen lautlos aus, damit man das Mundbild lesen kann.

In der Regel tragen wir dunkle Kleider, damit man unsere Gebärden besser sieht. Wenn ich einen Anlass mit Kindern habe, zum Beispiel ein Kindertheater, ziehe ich ein farbiges Kleid vor. Generell dürfen wir unsere persönliche Meinung nicht äussern und uns nicht zu stark parfümieren. Zudem unterstehen wir einer beruflichen Schweigepflicht.

Manchmal werde ich auch zu einem medizinischen Notfall gerufen. Selbst in hektischen Situationen, etwa in der Notaufnahme, versuche ich, kurz mit der gehörlosen Person in Kontakt zu treten, bevor ich übersetze. Das ist wichtig, weil jeder Mensch die Gebärdensprache etwas anders verwendet.

Ich arbeite als Gebärdensprach­dolmetscherin auch für das Schweizer Fernsehen, etwa für «Schweiz aktuell». Wenn ich einen solchen Einsatz habe, treffe ich um 16 Uhr im Fernsehstudio in Zürich ein – und dann ist alles minutengenau durchgetaktet. Zunächst starte ich meinen Computer und wähle ein für die Sendung passendes Kleidungsstück. Dann geht es ab in die Maske.

Bei «Schweiz aktuell» live auf Sendung

Einmal sass Bundesrätin Karin Keller-Sutter neben mir und wurde für ihren Auftritt bereit gemacht. Das war schon recht ungewöhnlich, machte mich aber nicht nervös, da sie nicht in der gleichen Sendung auftrat wie ich. Sind einzelne Filmberichte schon fertig, schaue ich sie mir vorgängig an, ansonsten lese ich zumindest die Texte dazu. Um 18.50 Uhr tausche ich mich kurz mit den Kollegen von der «Tagesschau» aus, dann mache ich ein Warm-up für meine Hände, ich gebärde mich ein.

Ab 19 Uhr sind wir mit «Schweiz aktuell» live auf Sendung. Ich schätze es, dass in diesem Gefäss auch mal leichtere Themen vorkommen. Ich arbeite ebenfalls für die «Rundschau». Dort wurde zu Beginn des russischen Angriffs häufig über den Ukrainekrieg berichtet. Das war oft sehr traurig, weil wir in der Gebärdensprache jeweils aus der Ich-Perspektive übersetzen. Da es so belastend war, stellte uns das Fernsehen schliesslich eine Supervision zur Seite.

Wenn ich nach dem Einsatz für «Schweiz aktuell» gegen 20 Uhr nach Hause komme, koche ich gerne und esse gemeinsam mit meinen beiden Teenagern. Fit halte ich mich mit Velofahrten zwischen den Einsätzen und mit Schwimmen im Hallenbad. Etwa um 23 Uhr lege ich mich schlafen. Dabei gilt es, die hundert Schubladen, die sich während des Tages öffneten, wieder zu schliessen. Das Denken in Bildern, das ich als Gebärdensprachdolmetscherin gelernt habe, hilft mir dabei.

Dieser Text ist in «Das Magazin» der Tamedia-Zeitungen (Rubrik «Ein Tag im Leben») erschienen. 

 


 

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