«Zurück in Berlin merkte ich, wie traurig ich bin»

Der Reporter Tigran Petrosyan erklärt, weshalb ihm sein jüngster Besuch in Armenien besonders schwergefallen ist. Und warum er nicht mehr ins umkämpfte Bergkarabach fahren kann.

Tigran Petrosyan
Tigran Petrosyan (Bild Ute Langkafel)

Sie sind regelmässig als Journalist in Armenien. Wie haben Sie die Situation nach der Eskalation des Konflikts um Bergkarabach im letzten Herbst erlebt?
Tigran Petrosyan: Ich war zuletzt im Oktober in Armenien, um über die Vertreibung der armenischen Bevölkerung aus Bergkarabach zu schreiben. Dieser Exodus von 100 000 Menschen empört mich und macht mich sauer. Vor Ort versuchte ich zwar, einen klaren Kopf zu behalten und primär Journalist zu sein und nicht Armenier. Als ich wieder in Berlin landete, merkte ich aber, wie traurig ich bin. Wer selbst eine Migrationsgeschichte hat wie ich, den begleitet ein solches Gefühl wohl ein Leben lang. Zudem befürchte ich, dass Aserbaidschan weitere Angriffe gegen Armenien auslösen könnte.

Wie geht es den Vertriebenen, die jetzt in Armenien sind?
Sie haben ihr ganzes Hab und Gut in Bergkarabach verloren und wissen jetzt als Flüchtlinge nicht, wie es weitergeht. Darunter sind auch viele Alte und Kranke, die halb verhungert sind.

Offenbar fühlen sich viele Menschen in Armenien vom Westen im Stich gelassen. Wünschen sie sich eine gleiche Unterstützung an Waffen und Finanzmitteln für ihr Land wie die Ukraine?
Die Frage ist nicht, ob Armenien mehr Waffen braucht. Vielmehr geht es darum, das Öl- und Gasgeschäft mit Aserbaidschan zu unterbinden, damit es keine weitere Eskalation des Konflikts mit Armenien gibt. Wegen des russischen Kriegs in der Ukraine kauft Europa mehr aserbaidschanisches Öl und Gas, was fatal ist. Die staatliche aserbaidschanische Gesellschaft Socar macht übrigens 65 Prozent ihres Umsatzes in der Schweiz.

Laut einer Rangliste der NGO «Reporter ohne Grenzen» ist die Medienfreiheit in Armenien ziemlich hoch, fast schon auf mitteleuropäischem Niveau. Teilen Sie diese Einschätzung?
Ja, verglichen mit Armeniens Nachbarländern wie Aserbaidschan, Türkei, Iran und etwas weiter entfernt auch Russland sind die Medien in Armenien viel freier. Medienschaffende kommen hier für ihre Tätigkeit nicht in den Knast. Trotzdem gibt es auch in Armenien Probleme: So versteht man wie in vielen anderen postsowjetischen Staaten unter öffentlich-rechtlichen Medien primär staatlich gelenkte Medien. Zudem werden viele Medien durch Oligarchen beherrscht, die entweder die Regierung oder die Opposition unterstützen. Was fehlt, sind unabhängige Medien, die kritische Recherchen finanzieren.

Konnten Sie in Armenien ohne Restriktionen arbeiten?
Für inländische wie ausländische Medienschaffende gibt es in Armenien keine Hindernisse. Auch wenn man sich kritisch über die Regierung äussert, wie ich das schon getan habe.

Gibt es in der Region Bergkarabach noch unabhängige Journalisten?
Ich war früher mehrmals in Bergkarabach, nun geht das nicht mehr. Aserbaidschan, das die Region kontrolliert, lässt keine internationalen Journalistinnen und Journalisten einreisen – Armenier schon gar nicht. Es fahren bloss aserbaidschanische Medienschaffende dorthin, die ihren Staatspräsidenten Alijew begleiten und seine Propaganda verbreiten.

Eine Folge des Zerfalls der Sowjetunion

Der Konflikt im Süd-Kaukasus um Bergkarabach eskalierte mit dem Zerfall der Sowjetunion 1991. Die Exklave wurde mehrheitlich von Armeniern bewohnt, gehörte aber völkerrechtlich zu Aserbaidschan. Während die armenische Seite einen ersten Krieg ab 1992 für sich entscheiden konnte, hat sie 2020 einen Teil und im Herbst 2023 die ganze Region an Aserbaidschan verloren. Russische Truppen vor Ort liessen die aserbaidschanische Armee gewähren.

Tigran Petrosyan (39) stammt aus Armenien und lebt seit 10 Jahren in Berlin. Er schreibt als Reporter aus Osteuropa, u.a. für die WOZ. Zudem leitet er die Osteuropa-Projekte der taz Panter Stiftung.