Vom Ararat zu den Schützengräben Karabachs

Das Auseinanderbrechen der Sowjetunion bescherte der Bevölkerung Armeniens nicht nur neue Freiheiten. Sondern es schuf auch unüberwindbare Grenzen, wie eine Reportage zeigt, die bis Nagorno-Karabach führte.

Zum Greifen nah und doch so fern: Blick von der armenischen Hauptstadt Jerewan auf den Ararat. Foto Keystone

«Man sagt, der Ararat sei schöner von der armenischen als von der türkischen Seite», erklärt die Exilarmenierin Eliane, während wir in hohem Tempo von der armenischen Hauptstadt Jerewan Richtung türkische Grenze fahren. Diese Aussage bekommt man in dem jungen Kaukasusstaat immer wieder zu hören. Die grosse weisse Schneekappe des über 5137 Meter hohen Berges glänzt in der warmen Herbstsonne, während wir durch eine Landschaft fast ohne Vegetation fahren. Der Blick auf den Vulkankegel ist wirklich atemberaubend – allerdings soll er auch von der türkischen Seite nicht übel aussehen.

Stacheldraht und Wachtürme

Warum fahren die Armenier nicht hin und überzeugen sich selbst davon? Sie haben gar keine Möglichkeit dazu: Stacheldrahtzäune und Wachtürme diesseits des Ararats markieren die Grenze zur Türkei, die seit dem Konflikt mit (dem von der Türkei unterstützten) Aserbaidschan um Nagorno-Karabach geschlossen ist. Der Berg ist von Armenien aus auf dem Landweg unerreichbar. In den Köpfen der Armenier gehört der Ararat aber zu ihrem Land. Schliesslich war der schneebedeckte Koloss einmal Teil des armenischen Siedlungsgebiets in Ostanatolien. Der Völkermord an den Armeniern im ottomanischen Reich 1915 machte dieser Geschichte aber ein Ende.

Am Tag zuvor sind wir an herausgeputzten Cafés und noblen Restaurants vorbei durch das Stadtzentrum von Jerewan gefahren. Auf einem Hügel ist eine 23 Meter hohe Statue der «Mutter Armenia» zu sehen, die den Türken mit einem grossen Schwert droht. Sie ersetzte 1967 eine Stalin-Statue: Diese war in einer Nacht-und-Nebel-Aktion geschliffen worden, der fallende Koloss kostete zwei Soldaten das Leben. Stalin töte auch noch vom Grab aus, soll man in Jerewan gemurrt haben.

Aufschwung

«In den letzten Jahren gab es in Armenien ein beachtliches Wirtschaftswachstum», sagt Alexander Iskandarian mit rauchiger Stimme in seinem Büro. Iskandarian, ein sympathischer rundlicher Mann mit einem Vollbart, ist Direktor des Kaukasus-Medieninstituts in Jerewan. Vor elf Jahren, nach dem Ende des Kriegs um die von den Armeniern eroberte Exklave Nagorno-Karabach (vgl. Box unten), habe es in Jerewan kaum Strom gegeben – höchstens während zwei Stunden pro Tag. Dies hat sich mittlerweile, auch dank dem Bau eines Atomkraftwerks, geändert. «Wenn man Geld hat und einen Job, lässt es sich heute gut leben in der Hauptstadt», sagt Iskandarian. Die Wachstumsraten von jährlich um die zehn Prozent sieht er auch durch den tiefen Fall während des Kriegs begründet: Armenien sei nun daran, wieder aus diesem Loch herauszukommen, erklärt er, während er an einer Cigarillo zieht.

Auch wenn der Waffenstillstand mit Aserbaidschan seit elf Jahren mehr oder weniger hält, leidet Armenien nach wie vor gewaltig unter den Folgen des Konflikts: «Die armenische Position in der Region ist sehr delikat», sagt der Politologe Iskandarian. Nicht nur zur Türkei, sondern auch zum eigentlichen Kriegsgegner Aserbaidschan bleiben die Schlagbäume fest verschlossen. Dies sei ein gewaltiger Nachteil für die wirtschaftliche Entwicklung – entfielen so doch zwei wichtige Handelspartner.

Drei Tage später gelangen wir nach einer langen Fahrt über ein Hochplateau, bei der uns viele iranische Lastwagen kreuzen, zu den schwarzen Bergketten von Nagorno-Karabach. Die Strasse ist für armenische Verhältnisse in gutem Zustand. «Sie wird jedes Jahr geflickt», weiss Taxichauffeur Frik – mit finanzieller Hilfe der armenischen Diaspora. Vor dem Dorf Latschin, das früher im aserbaidschanischen Korridor zwischen Armenien und Nagorno-Karabach lag und das die Armenier besetzt haben, thront eine neue Kirche. In ihrem Innern sind kitschige Fresken zu sehen.

In Stepanakert, dem Hauptort von Nagorno-Karabach, sind kaum mehr Spuren des Kriegs auszumachen. Während fünf Jahren musste hier die Bevölkerung in den Kellern leben, weil sie von den Aserbaidschanern von den nahen Hügeln aus mit Granaten beschossen wurde. Inzwischen wird überall wieder aufgebaut und gestrichen, Baumärkte haben Hochkonjunktur. Ausser Exilarmeniern scheinen sich nur wenig Touristen hierher zu verirren – Ausländer werden von Kindern und Schülerinnen mitten in der Stadt mit einem lauten «Hello» angesprochen.

Exilarmenier bezahlen

Nagorno-Karabach hat sich für unabhängig erklärt – wie ist so ein kleiner Staat überlebensfähig? «Klar haben wir grosse Probleme», räumt der unabhängige Journalist Gegam Bagdasarian in seinem kleinen Büro in Stepanakert ein. Weil die Bergrepublik von der Staatenwelt nicht anerkannt werde, erhalte sie kein Geld vom Internationalen Währungsfonds und von der Weltbank. Allerdings greife Jerewan kräftig in die Tasche, bezahle es doch über 50 Prozent des Budgets von Nagorno-Karabach. Auch die Diaspora schicke viel Geld. Diese Unterstützung führe dazu, dass die Lebensverhältnisse in Stepanakert fast besser seien als in Armenien. «Ausserhalb Stepanakerts ist dies aber nicht der Fall», betont der Journalist.

Definitiv davon überzeugen kann man sich, indem man nach Agdam fährt: Die Stadt liegt eine halbe Autostunde östlich von Stepanakert im aserbaidschanischen Kernland und wurde 1994 von armenischen Truppen erobert. Das Aussenministerium von Nagorno-Karabach erlaubt Ausländern den Besuch der Stadt offiziell zwar nicht, es ist aber nicht schwer, einen Taxichauffeur zu finden, der einen dorthin fährt.

Totale Zerstörung

Zunächst gelangt man an einem moslemischen Friedhof vorbei, der ziemlich verwahrlost ist. Die Strasse wird immer schlechter, und riesige Schlaglöcher verlangen ein langsameres Tempo. Auf einmal tauchen die ersten Ruinen von zerstörten Häusern auf. Man könnte sich auf einem riesigen Trainingsgelände der Armee für den Häuserkampf wähnen, überall stehen nur noch Fassaden. Kein einziges Haus ist mehr ganz, kein Dach ist mehr zu sehen. Leute aus Nagorno-Karabach haben alles abmontiert, was nicht niet- und nagelfest ist: Baumaterialien, Armaturen sowie Kupfer- und Metallteile. Auch alte Kanalisationsrohre wurden ausgegraben und abtransportiert.

Von weitem sind zwei Türme einer Moschee zu sehen – das ehemalige Stadtzentrum. Wir fahren über eine Schotterstrasse dorthin und steigen aus. Armenische Soldaten haben in ihrem Innern Kreuze aufgemalt und ihre Namen verewigt. Über eine Treppe gelangt man auf das Minarett – der Gang ist so eng, dass man fast kriechen muss. Von oben, wo früher der Muezzin zum Gebet gerufen hat, überblickt man das Ausmass der Zerstörung. So ähnlich muss es in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg ausgesehen haben: kilometerweit nur noch Ruinen. In Agdam lebten vor dem Krieg 100 000 Einwohner. Nun hausen noch ein paar Armenier da, die nach etwas Verwertbarem suchen.

Explosive Grenze

Plötzlich ist in der Ferne Maschinengewehrfeuer zu hören, und ein dünner Rauch ist auszumachen. «Das ist acht Kilometer weit weg», beruhigt der lokale Führer: Dort, an der Waffenstillstandslinie, sitzen Karabacher und Aserbaidschaner einander in ihren Schützengräben gegenüber. Die Linie blieb seit dem Kriegsende 1994 unverändert. Gelegentlich findet bei Scharmützeln an der Grenze aber ein Soldat den Tod, wie Journalist Bagdasarian erklärt hat.

Wir steigen rasch wieder vom Minarett herunter und machen uns auf den Rückweg nach Stepanakert. Von der Moschee sollte man nämlich nicht mehr weiterfahren. Wer nach Aserbaidschan gelangen will, fährt am besten sechs Stunden mit dem Auto zurück nach Jerewan und nimmt dann ein Flugzeug via die georgische Hauptstadt Tiflis.

 

Der Konflikt um Nagorno-Karabach

In der Endphase der Sowjetunion eskalierten Nationalitätenkonflikte, die zuvor lange unter dem Deckel gehalten werden konnten: So auch in Nagorno-Karabach, das mehrheitlich von (christlichen) Armeniern bewohnt wurde und Stalin in den 1920er Jahren dem (muslimischen) Aserbaidschan zugeschlagen hatte. Ab 1987 forderten immer mehr Menschen in Nagorno-Karabach den Anschluss an Armenien. 1989 entbrannte ein Krieg, bei dem die Karabacher von Armenien unterstützt wurden, während Aserbaidschan auf die Hilfe von Sowjettruppen und auch von türkischen Offizieren zählen konnte. Nach langen Kämpfen konnte die armenische Seite den Krieg für sich entscheiden. 1994 gab es einen Waffenstillstand. Nagorno-Karabach hat sich mittlerweile zur unabhängigen Republik erklärt – diese wird jedoch international nicht anerkannt. Bisher sind alle Bemühungen für einen Friedensvertrag gescheitert.